Ich wurde direkt gefragt, ob ich mir auch vorstellen kann, nach Russland zu gehen?
Da meinte ich direkt - Um Gottes Willen nein, wie kommen Sie denn darauf?

Erstmal zu deiner Person zur Einordnung. Wann warst du in Russland? Was machst du jetzt? Und in welcher Stelle warst du genau?

Ich war von September 2001 bis August 2002 in St. Petersburg, im Kinderheim Pawlowsk, der 33. Gruppe. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere, der einmal dort war, an daran: das war diese eine Gruppe, die im Erdgeschoss untergebracht war, mit lauter wilden Jungs.

Sehr schön! Wie bist du denn auf die Idee gekommen nach Russland zu gehen? Wie hast du die Organisation Perspektivy gefunden?

Na gar nicht! (lacht) Ich wusste, dass ich Zivildienst im Ausland machen wollte. Aber mit Russland hatte ich zuvor gar keine Berührungspunkte. Ich habe von Frankreich, Italien oder Ghana geträumt. Australien hatte ich auch auf der Liste. Irgendwohin, wo es warm ist! Es ist ein bisschen verrückt, dass es dann Russland geworden ist. Ich bin ganz plötzlich spontan, kurz nach Weihnachten von der Partnerorganisation ICE in Dresden angerufen worden, ob ich nicht übermorgen Lust hätte, als Nachrücker zu einem Auswahlseminar nach Dresden zu kommen. Ich habe mich da für die ICE-Stellen in Westeuropa interessiert. Sie haben mich natürlich gefragt: Kannst du dir auch vorstellen, nach Russland zu gehen? Da bin ich aus allen Wolken gefallen. Auf keinen Fall, habe ich gesagt. Mich hat ja nichts mit Russland verbunden, bis dahin. Aber an den folgenden Tagen wurde Perspektiven vorgestellt, die Arbeit in Pawlowsk, ehemalige Freiwillige haben von dort berichtet. Das hat auf eine ganz eigenartige Art Eindruck auf mich gemacht. Ich habe auf einmal gewusst: Das ist es. Das ist das Richtige. Das war es auch. Mich damals spontan doch noch für Russland zu bewerben war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Ich habe sie nie bereut. Ich bin dann ja auch etwas länger da hängen geblieben…

Ja ich kann das sehr gut nachvollziehen! Ich wollte auch nicht nach Russland und ich konnte vorher auch gar kein Russisch. Da meinten die zu mir: ,,Jo Georg, wie wär's mit Russland?'' Da meinte ich nur, ne, lieber nicht. Ich wollte dann auch gar nicht selber hin, aber die Organisation meinte dann, wir haben da eine richtig coole Stelle. Ich war dann im PNI und da hat es mir auch richtig gut gefallen. Jetzt bin ich auch ein kleiner Russland-Fan.

Kurz bevor ich nach Russland gegangen bin, hatte ich auch keine Ahnung, dass ich jemals nach Russland gehen würde. Im Prinzip hängt jetzt mein ganzes Leben damit zusammen. Ich habe sieben Jahre als Journalist dort gearbeitet, zwei meiner Kinder sind dort geboren. Ich bin dankbar dafür, wie sich alles gefügt hat, aber ein bisschen verrückt ist es ja schon.

Ja auf jeden Fall! Wie waren denn deine Vorstellungen von Russland? Hattest du überhaupt irgendwie eine Vorstellung, bevor du dort hingegangen bist?

Nur so die klassische westdeutsche oberflächliche Medien, Perspektiven. Ich weiß noch, dass die Nachrichten über Russland mich immer beängstigt haben. Irgendwas mit Atomwaffen, irgendwelche Putsche, an sowas konnte ich mich noch gut erinnern. Unberechenbar. Ich hatte kurz vorher ein Buch gelesen, das hieß „Das Schwarze Manifest", das ist ein Krimi-Triller, wo es drunter und drüber geht in Russland, also alles ganz abstrus, gefährlich und schlimm. So, das war mein Russland-Bild gewesen. Ich hatte kein bewusstes Russland-Bild, nur die üblichen Info-Bruchstücke am Rande meiner Aufmerksamkeit. Also so ziemlich genau das, was mich heute wahnsinnig aufregt, diese Klischees. Man glaubt ja auch gar nicht, wie tief verwurzelt dieses eigenartige Bild von Russland in Deutschland ist. Ich komme aus einem Dorf bei Bonn, als sich da rumgesprochen hat, dass ich dort hingehe, haben viele Leute meinen Eltern gesagt: „Das müsst ihr dem Benjamin doch unbedingt ausreden! Wir haben die Russen doch kennengelernt nach dem Krieg." Mein Umfeld war sehr schockiert. Fast so schockiert, wie ich selbst, aber ich habe einfach gedacht - ja das passt und das wird auch ein Abenteuer und mal was ganz anderes machen. Zu etwas aufbrechen, zu dem man bislang keinen Bezugspunkt hat, das ist auch eine Art von Freiheit.

Wie war dann dein erster Eindruck, als du dann in die Stadt kamst, und auch dein erster Eindruck in der Stelle?

Ich weiß nicht, wie das in späteren Jahren war. Wie seid Ihr hingekommen? Wir sind eine Etappe mit dem Bus und eine mit dem Zug gefahren, Umsteigen in Vilnius. Gefühlt war das eine endlose Fahrt durch Graslandschaften und Wälder. Es hat sich angefühlt, wie eine Ewigkeit, wie die Reise an ein Ende der Welt. Die Ankunft in Petersburg werde ich nie vergessen: Wir haben in der Innenstadt gewohnt, in der Nähe des Witebsker Bahnhofs. Also sind wir zu Fuß zur Wohnung gelaufen. Und was soll ich sagen: Ich war sofort fasziniert von dieser Kombination aus Schönheit und Morbidität. Einleben war natürlich nicht so einfach. Ich hatte einen Crash-Kurs Russisch absolviert und dachte, ich würde die Sprache jetzt voll gut können. Dann bin ich in einen kleinen Tante-Emma-Laden reingegangen. Supermärkte gab es damals noch nicht. Das endete natürlich in einer Katasrophe: Man musste da nämlich erstmal genau aufzählen, was man denn genau kaufen möchte und zu welchem Preis, in welcher Abteilung, dann zur Kasse gehen, und noch einmal alles Aufsagen, nebst der korrekten Preise. Ich bin rückwärts wieder raus aus dem Laden, ohne irgendetwas zu kaufen… Da war mir klar: Das ist jetzt verflucht ernst, wenn du hier mitreden willst, musst du dich dahinterklemmen. Ich habe sehr viel Zeit ins Russisch lernen gesteckt. Das hat sich als sehr großartig erwiesen, denn dadurch hat sich mir eine bis dato völlig fremde Welt geöffnet. Heute ist sie ein Stück Heimat für mich.

Wie lange hat es dann gedauert, bis du dann so gut Russisch konntest, dass du dann alles ohne Probleme bestellen konntest in den Läden?


Bis jetzt ! (lacht) Bis ich mich leidlich sicher gefühlt habe, das hat mindestens ein halbes Jahr gedauert. Auch dann bin ich noch auf die Nase gefallen. Wir hatten ein wenig Sprachunterricht gehabt, von wechselnder Qualität. Also es wurde Frühling, bis es besser wurde. Ich würde sagen, ich hatte einen harten Winter dort. Aber es gehört ja auch dazu. Es war jetzt kein Wohlfühl-Programm, eine Zeit mit Höhen und Tiefen. Rückblickend hat aber genau das auch den Wert ausgemacht.
Mit wie vielen Freiwilligen warst du da und hast du es irgendwie geschafft, Anschluss zu finden an die russische Gesellschaft? Hast du russische Freunde gefunden in dem Jahr?

Ich glaube, wir waren 16 aus Deutschland. Anfangs war es sehr schwierig, darüber hinaus Anschluss zu finden. Ich hab mal mit ein paar Typen auf dem Bolzplatz hinter den Häusern versucht, Fußball zu spielen. Ich würde schon sagen, dass ich am Anfang darunter gelitten habe, dass es schwierig ist, Menschen kennen zu lernen. Es war ja auch so, dass nicht so richtig viele Petersburger gutes Englisch gesprochen haben. Also haben wir Freiwilligen viel in der Gruppe gemacht, meist diejenigen, die im selben Viertel gewohnt haben.

Im Kinderheim in Pawlowsk war es wegen der Sprachbarriere am Anfang schon auch hart. Dort haben viele ältere, resolute Damen gearbeitet, also die Sanitarkas. Dann kommst du da mit 19 Jahren rein, hast noch nie mit Menschen mit Behinderung gearbeitet, kannst kein Russisch, glaubst aber, alles besser zu wissen. Du versuchst, irgendwie begreiflich zu machen, dass es so nicht geht. Ich war einen Tag da, und schon hatte ich veritablen Stress mit der Erzieherin der Gruppe, weil einige Kinder teilweise an die Heizung angebunden wurden. Was macht man in so einer Situation? Das hinzunehmen ist unmöglich, aber zugleich hast du nur wenig Möglichkeiten, diesen Konflikt irgendwie zivilisiert zu führen und zu klären. Da macht man natürlich auch Fehler. Und mir ist erst mit der Zeit so richtig klar geworden, wie sich das für die staatlichen Mitarbeiterinnen des Heims mitunter angefühlt haben muss. Ich glaube, viele von ihnen sind im Kern ähnlich wie die Kinder Opfer des gleichen Systems. Sie haben damals im Schnitt 60 Euro verdienst im Monat, 24 Stunden Schichten geschoben, und die meisten haben da nur deshalb gearbeitet, weil sie sonst nicht genug zum Leben hatten. In meiner Zeit dort sind zwei der Sanitarkas gestorben, das waren Frauen Mitte Ende 50… Und dann platzt du da rein als junger Mensch aus dem Ausland mit deinem fast schon rücksichtslosen Idealismus. Andererseits braucht man den wahrscheinlich auch. Am Ende habe ich ein enges Verhältnis zu den Erzieherinnen und Sanitarkas gehabt. Zum Abschied haben wir uns alle getroffen und ich habe ein Abschiedsessen gekocht und danach Briefe geschrieben.

Wie war denn für dich deine Arbeit? Was hat sie dir gegeben? Hast du das Gefühl gehabt, dass du einen großen Unterschied machen konntest?


Rückblickend fühlt es sich verrückt an, fast ein bisschen anmaßend: Ich hatte ja keine Fachausbildung, kaum Erfahrung in dem Bereich. Und trotzdem war da immer das klare Gefühl, dass es einen krassen Unterschied macht, was ich tue. Und ob ich morgens zur Arbeit gehe, oder nicht. Das ist eine der wertvollsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Es macht einen Unterschied, was du tust. Meine Gruppe wilder Jungen hat sich etwas unterschieden von den anderen in Haus 4 des Heims in Pawlowsk. Das hatte diese schreckliche Bezeichnung „Korpus der Liegenden Gruppen", weil viele der Kinder kaum aus den Betten heraus kamen. Die 33. Gruppe war da anders, die waren alle ganz mobil. Aber vor mir war soweit ich weiß kein Frewilliger in der Gruppe gewesen. Ich bin mit ihnen spazieren gegangen, wir haben getobt, mit einigen lesen gelernt oder das selbständiges Essen geübt. Wir haben den Gruppenraum renoviert und einen kleinen Garten angelegt. Mit diesen Jungs war vorher so wenig gemacht worden, deshalb war alles, was wir gemacht haben, wertvoll. Dieses Gefühl, etwas bewegen zu können, war pures Glück. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Da war ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, weil es dieses großartige Projekt gibt.

Das freut mich sehr zu hören. Gibt es irgendeinen Moment, der dir besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Das schlimmste, was mir dort passiert ist, war der Tod, den man dort miterlebt hat. Es war gar nicht unbedingt der Tod selbst, sondern die kalte Routine, mit der mit dem Tod umgegangen wurde. Es kam mir vor, als würde der Tod eines Kindes nichts zählen. Da war ein Junge namens Oleg, der hatte einen Wasserkopf. Er war blind, hörte schlecht, war aber ein unglaublich fröhlicher Mensch. Ich kann mich noch so gut an ihn erinnern: Morgens saß er in seinem Frottee-Schlafanzug im Bett, „Sweet Bear of Storm" stand darauf, und er hat gejauchzt. Ich habe mich sehr viel um Oleg gekümmert. Dann ging es ihm einige Tage schlecht, er wurde ins Bett verfrachtet. Als ich nochmals nach ihm geguckt habe, ist mir aufgefallen, dass er nicht mehr atmet. Er ist in den fünf oder zehn Minuten, in denen niemand bei ihm war, alleine in seinem Bett gestorben. Am Schlimmsten fand ich dann das schulterzucken des Heim-Arztes. Seine Reaktion war nur. „Ja, er ist halt tot." Alles ist an diesem Tag routiniert weiter seinen Gang gegangen. Ich verstehe, dass man unter den Umständen des Heims abstumpft, vielleicht sogar abstumpfen muss. Aber diese Gleichgültigkeit hat mich fertig gemacht. Ganz allgemein war es so, dass mich in Pawlowsk die Nähe von unbeschwertem Kinderlachen und dem täglichen Leid beschäftigt hat. Man erlebt das Beste im Menschen und sieht dann Abgründe, die man so nicht gekannt hat. An jedem 12. April denke ich bis heute noch an Oleg. Er war ein unglaublich liebenswerter Junge.

Wie hat dich dein freiwilliges Jahr für dein späteres Leben geprägt?


Es hat formal nichts an meiner Berufswahl geändert. Ich bin nach Russland aufgebrochen und wusste bereits, dass ich Wirtschaft studieren möchte und dass ich Journalist werden möchte. Mein Blick auf die Welt hat sich damals allerdings sehr verändert. Mein ganzes Leben ist in anderen Bahnen verlaufen. Ohne den Zivildienst hätte ich mich nicht in Petersburg verliebt, hätte nicht Russisch gelernt und dort nochmal studiert. Ich hätte kein Praktikum im Moskauer Büro meines jetzigen Arbeitgebers bekommen. Hätte dann diesen Job nicht bekommen, wäre kein Auslandskorrespondent geworden. Ich hätte nicht den halben postsowjetischen Raum kennen gelernt, von Tbilisi über Taschkent, Astrachan oder Kiew. Mein Leben wäre so viel ärmer ohne diese Zeit.

Ja, das geht mir genauso. Hast du noch Kontakt zu Mitfreiwilligen und hast du deine Arbeitsstelle dort nochmal besucht?

Zu ein paar, wir schreiben uns sporadisch. Es ist halt auch schon 20 Jahre her! Zu einigen habe ich noch engeren Kontakt. Ich bin zweimal in den Sommerferien nochmal nach Pawlowsk gefahren, als Sommerloch-Aushilfe, als gerade keine Freiwilligen dort waren. Wir haben dann gemeinsame Ausflüge gemacht. Leider wurde meine Gruppe aufgeteilt, also gab es sie so nicht mehr. Das hat es für mich schwer gemacht, die Schicksale der Kinder zu verfolgen. Von einigen weiß ich, dass sie in den vergangenen Jahren gestorben sind. Zu ein paar anderen habe ich immer noch sporadisch kontatkt. Als ich noch in Moskau gelebt habe, haben mich drei fast jedes Wochenende angerufen. Sie leben jetzt im Erwachsenenheim Peterhof. Sie sind dreißig Jahre alt und richtige Kerle geworden… Eines ihres Schicksale habe ich mal aufgeschrieben für einen Text, weil seine Geschichte so viel Mut macht. Er ist ein Kämpfer und hat sich aus dem Heim-System rausgeboxt. Er hat aber auch Jahre dafür gebraucht und die Hilfe von Perspektiven.

Meine letzte Frage an dich. Was würdest du zukünftigen Freiwilligen mit auf den Weg geben.

Ich weiß es nicht. Das ist schwer. Ich kann nachvollziehen, dass was für mich gut war, nicht für jeden gut sein muss. Nicht jeder erlebt die Dinge gleich. Nicht alle Situationen, die sich da ergeben haben, waren immer gut. Es hat andere Gruppen in dem Heim gegeben, da sind jede Woche Kinder gestorben – und trotzdem haben die Freiwilligen weiter gemacht. Ich habe da Respekt vor, und doch glaube ich, dass es nicht unter allen Umständen die richtige Entscheidung ist, weiter zu machen. Anders gesagt: Ich glaube, man muss am Ende immer auf sein Herz hören. Und dazu gehört auch, auf sich selbst aufzupassen. Das ist jetzt vielleicht nicht der positivste Abschluss, aber das ist wichtig.
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