Mit wie vielen Freiwilligen warst du da und hast du es irgendwie geschafft, Anschluss zu finden an die russische Gesellschaft? Hast du russische Freunde gefunden in dem Jahr?
Ich glaube, wir waren 16 aus Deutschland. Anfangs war es sehr schwierig, darüber hinaus Anschluss zu finden. Ich hab mal mit ein paar Typen auf dem Bolzplatz hinter den Häusern versucht, Fußball zu spielen. Ich würde schon sagen, dass ich am Anfang darunter gelitten habe, dass es schwierig ist, Menschen kennen zu lernen. Es war ja auch so, dass nicht so richtig viele Petersburger gutes Englisch gesprochen haben. Also haben wir Freiwilligen viel in der Gruppe gemacht, meist diejenigen, die im selben Viertel gewohnt haben.
Im Kinderheim in Pawlowsk war es wegen der Sprachbarriere am Anfang schon auch hart. Dort haben viele ältere, resolute Damen gearbeitet, also die Sanitarkas. Dann kommst du da mit 19 Jahren rein, hast noch nie mit Menschen mit Behinderung gearbeitet, kannst kein Russisch, glaubst aber, alles besser zu wissen. Du versuchst, irgendwie begreiflich zu machen, dass es so nicht geht. Ich war einen Tag da, und schon hatte ich veritablen Stress mit der Erzieherin der Gruppe, weil einige Kinder teilweise an die Heizung angebunden wurden. Was macht man in so einer Situation? Das hinzunehmen ist unmöglich, aber zugleich hast du nur wenig Möglichkeiten, diesen Konflikt irgendwie zivilisiert zu führen und zu klären. Da macht man natürlich auch Fehler. Und mir ist erst mit der Zeit so richtig klar geworden, wie sich das für die staatlichen Mitarbeiterinnen des Heims mitunter angefühlt haben muss. Ich glaube, viele von ihnen sind im Kern ähnlich wie die Kinder Opfer des gleichen Systems. Sie haben damals im Schnitt 60 Euro verdienst im Monat, 24 Stunden Schichten geschoben, und die meisten haben da nur deshalb gearbeitet, weil sie sonst nicht genug zum Leben hatten. In meiner Zeit dort sind zwei der Sanitarkas gestorben, das waren Frauen Mitte Ende 50… Und dann platzt du da rein als junger Mensch aus dem Ausland mit deinem fast schon rücksichtslosen Idealismus. Andererseits braucht man den wahrscheinlich auch. Am Ende habe ich ein enges Verhältnis zu den Erzieherinnen und Sanitarkas gehabt. Zum Abschied haben wir uns alle getroffen und ich habe ein Abschiedsessen gekocht und danach Briefe geschrieben.
Wie war denn für dich deine Arbeit? Was hat sie dir gegeben? Hast du das Gefühl gehabt, dass du einen großen Unterschied machen konntest?
Rückblickend fühlt es sich verrückt an, fast ein bisschen anmaßend: Ich hatte ja keine Fachausbildung, kaum Erfahrung in dem Bereich. Und trotzdem war da immer das klare Gefühl, dass es einen krassen Unterschied macht, was ich tue. Und ob ich morgens zur Arbeit gehe, oder nicht. Das ist eine der wertvollsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Es macht einen Unterschied, was du tust. Meine Gruppe wilder Jungen hat sich etwas unterschieden von den anderen in Haus 4 des Heims in Pawlowsk. Das hatte diese schreckliche Bezeichnung „Korpus der Liegenden Gruppen", weil viele der Kinder kaum aus den Betten heraus kamen. Die 33. Gruppe war da anders, die waren alle ganz mobil. Aber vor mir war soweit ich weiß kein Frewilliger in der Gruppe gewesen. Ich bin mit ihnen spazieren gegangen, wir haben getobt, mit einigen lesen gelernt oder das selbständiges Essen geübt. Wir haben den Gruppenraum renoviert und einen kleinen Garten angelegt. Mit diesen Jungs war vorher so wenig gemacht worden, deshalb war alles, was wir gemacht haben, wertvoll. Dieses Gefühl, etwas bewegen zu können, war pures Glück. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Da war ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, weil es dieses großartige Projekt gibt.
Das freut mich sehr zu hören. Gibt es irgendeinen Moment, der dir besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Das schlimmste, was mir dort passiert ist, war der Tod, den man dort miterlebt hat. Es war gar nicht unbedingt der Tod selbst, sondern die kalte Routine, mit der mit dem Tod umgegangen wurde. Es kam mir vor, als würde der Tod eines Kindes nichts zählen. Da war ein Junge namens Oleg, der hatte einen Wasserkopf. Er war blind, hörte schlecht, war aber ein unglaublich fröhlicher Mensch. Ich kann mich noch so gut an ihn erinnern: Morgens saß er in seinem Frottee-Schlafanzug im Bett, „Sweet Bear of Storm" stand darauf, und er hat gejauchzt. Ich habe mich sehr viel um Oleg gekümmert. Dann ging es ihm einige Tage schlecht, er wurde ins Bett verfrachtet. Als ich nochmals nach ihm geguckt habe, ist mir aufgefallen, dass er nicht mehr atmet. Er ist in den fünf oder zehn Minuten, in denen niemand bei ihm war, alleine in seinem Bett gestorben. Am Schlimmsten fand ich dann das schulterzucken des Heim-Arztes. Seine Reaktion war nur. „Ja, er ist halt tot." Alles ist an diesem Tag routiniert weiter seinen Gang gegangen. Ich verstehe, dass man unter den Umständen des Heims abstumpft, vielleicht sogar abstumpfen muss. Aber diese Gleichgültigkeit hat mich fertig gemacht. Ganz allgemein war es so, dass mich in Pawlowsk die Nähe von unbeschwertem Kinderlachen und dem täglichen Leid beschäftigt hat. Man erlebt das Beste im Menschen und sieht dann Abgründe, die man so nicht gekannt hat. An jedem 12. April denke ich bis heute noch an Oleg. Er war ein unglaublich liebenswerter Junge.
Wie hat dich dein freiwilliges Jahr für dein späteres Leben geprägt?
Es hat formal nichts an meiner Berufswahl geändert. Ich bin nach Russland aufgebrochen und wusste bereits, dass ich Wirtschaft studieren möchte und dass ich Journalist werden möchte. Mein Blick auf die Welt hat sich damals allerdings sehr verändert. Mein ganzes Leben ist in anderen Bahnen verlaufen. Ohne den Zivildienst hätte ich mich nicht in Petersburg verliebt, hätte nicht Russisch gelernt und dort nochmal studiert. Ich hätte kein Praktikum im Moskauer Büro meines jetzigen Arbeitgebers bekommen. Hätte dann diesen Job nicht bekommen, wäre kein Auslandskorrespondent geworden. Ich hätte nicht den halben postsowjetischen Raum kennen gelernt, von Tbilisi über Taschkent, Astrachan oder Kiew. Mein Leben wäre so viel ärmer ohne diese Zeit.
Ja, das geht mir genauso. Hast du noch Kontakt zu Mitfreiwilligen und hast du deine Arbeitsstelle dort nochmal besucht?
Zu ein paar, wir schreiben uns sporadisch. Es ist halt auch schon 20 Jahre her! Zu einigen habe ich noch engeren Kontakt. Ich bin zweimal in den Sommerferien nochmal nach Pawlowsk gefahren, als Sommerloch-Aushilfe, als gerade keine Freiwilligen dort waren. Wir haben dann gemeinsame Ausflüge gemacht. Leider wurde meine Gruppe aufgeteilt, also gab es sie so nicht mehr. Das hat es für mich schwer gemacht, die Schicksale der Kinder zu verfolgen. Von einigen weiß ich, dass sie in den vergangenen Jahren gestorben sind. Zu ein paar anderen habe ich immer noch sporadisch kontatkt. Als ich noch in Moskau gelebt habe, haben mich drei fast jedes Wochenende angerufen. Sie leben jetzt im Erwachsenenheim Peterhof. Sie sind dreißig Jahre alt und richtige Kerle geworden… Eines ihres Schicksale habe ich mal aufgeschrieben für einen Text, weil seine Geschichte so viel Mut macht. Er ist ein Kämpfer und hat sich aus dem Heim-System rausgeboxt. Er hat aber auch Jahre dafür gebraucht und die Hilfe von Perspektiven.
Meine letzte Frage an dich. Was würdest du zukünftigen Freiwilligen mit auf den Weg geben.
Ich weiß es nicht. Das ist schwer. Ich kann nachvollziehen, dass was für mich gut war, nicht für jeden gut sein muss. Nicht jeder erlebt die Dinge gleich. Nicht alle Situationen, die sich da ergeben haben, waren immer gut. Es hat andere Gruppen in dem Heim gegeben, da sind jede Woche Kinder gestorben – und trotzdem haben die Freiwilligen weiter gemacht. Ich habe da Respekt vor, und doch glaube ich, dass es nicht unter allen Umständen die richtige Entscheidung ist, weiter zu machen. Anders gesagt: Ich glaube, man muss am Ende immer auf sein Herz hören. Und dazu gehört auch, auf sich selbst aufzupassen. Das ist jetzt vielleicht nicht der positivste Abschluss, aber das ist wichtig.