Kannst du bitte erzählen wie du Perspektivy gefunden hast, und wie du zu der Entscheidung gekommen bist nach Russland zu gehen und nicht in ein anderes Land?
Ich wollte ganz gerne nach Irland, um meinen Freiwilligendienst zu machen, und dann bin ich beim ICE in Dresden gewesen, und das hat sich ein bisschen verändert. Ich war also auch offen für andere Länder und sollte dann nach Italien gehen und habe dafür eine Zusage bekommen. Dann habe ich mich gefreut und angefangen Italienisch zu lernen und dann kam im Herbst eine Nachricht vom ICE, dass das nicht klappt mit Italien und ob ich nach Polen gehen könnte, nach Krakau. Da habe ich gedacht, gut, das kann ich mir gut vorstellen. Krakau kannte ich, eine sehr schöne Stadt. Ich hab mir also ein Polnisch-Lehrbuch gekauft und angefangen Polnisch zu lernen. Und dann war im Sommer die Vorbereitung, das war dann im Sommer 1999 beim ICE. Dort habe ich erfahren, dass in St. Petersburg ein Freiwilliger abgesprungen ist. Der hatte einen Studienplatz bekommen und wollte dann also nicht. Und dann war eine Stelle in Pawlowsk frei, damals waren ja die meisten Stellen in Pawlowsk. Ich fand die anderen Freiwilligen so nett, die nach Russland gehen wollten. Und dann habe ich gedacht, Russland kennst du ja überhaupt nicht, da hast du überhaupt keine Ahnung, dann gehst du doch nach Russland mit. Ich hab den Pater Rieth damals gefragt, ob ich noch nach Petersburg auf die Stelle wechseln kann und da waren sie am Ende ganz froh, weil sie unbedingt wollten, dass alle Freiwilligenstellen in Russland besetzt werden. Und dann habe ich praktisch 6 Wochen vor der Ausreise nochmal die Stellen gewechselt und bin dann so in Russland gelandet. Also das war alles andere als beabsichtigt, im Gegenteil, das war ein Sprung ins kalte Wasser.
Welche Vorstellungen zu Russland hattest du damals?
Ich hatte gar keine, ich hatte ja keine Vorbereitungszeit. Dadurch, dass das ja so kurz entschlossen war, hatte ich überhaupt keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen. Ich hatte bis dahin so gut wie nichts zu tun mit Russland. Ich hatte auch kein Russisch in der Schule. Ich war damals schon ein Mitglied von Greenpeace Russland. Insofern hatte ich das Wissen um die Umweltprobleme in Russland.
Wahrscheinlich hattest du eine Vorstellung durch die Medien?
Ja, aber du guckst dir ja in den Medien an, was dich interessiert. Und wenn du keinen Bezug zu Russland hast, dann guckst du dir auch nicht an, was in den Medien über Russland berichtet wird. Natürlich kannte man die Bilder, im Winter ist es kalt, Roter Platz, Moskau und Basiliuskathedrale, Samowar. Also irgendwie diese Klischees, die man so hat. Auch als Ostdeutscher hatte man ja im Kindergarten und in der Schule mit dem Großen Bruder aus der Sowjetunion zu tun gehabt, aber trotzdem hatte ich nicht wirklich eine Vorstellung davon, was Russland ist. Ich hab mir auch damals einen Wasserkocher gekauft und dann ihn mit nach Russland genommen, weil ich nicht wusste ob ich mir in Russland einen kaufen konnte.
Wie war dein Freiwilligenjahr in Russland für dich? Welche Eindrücke hast du bekommen?
Das war schon alles sehr interessant. Es ist ja nicht nur Russland gewesen als ein völlig fremdes Land, eine fremde Kultur, eine fremde Sprache, von der ich erstmal überhaupt nichts verstanden habe, sondern es ist natürlich auch das Kinderheim gewesen. Und das Kinderheim in Pawlowsk war ja schon ein sehr, sehr bedrückender Ort, weil die Situation der Kinder da schon sehr schlimm war. Und das eine waren dann die Eindrücke auf der Arbeit, sich da zurecht zu finden, zu verstehen, was da passiert, was dort meine Aufgabe ist, was ich hier machen kann, und das andere war das Leben. Aber St. Petersburg war ja auch damals schon eine fantastische Stadt. Das war toll in so einer großen Stadt zu sein, Metro zu fahren, und mit den anderen Freiwilligen die Stadt zu entdecken. Insofern war das alles sehr spannend, aber es war auch sehr, sehr anstrengend. Also schon früh um halb 6 aufzustehen und mit der Elektritschka im Winter in der Dunkelheit nach Pawlowsk zu fahren, das sind ja alles neue Eindrücke. Diese Dunkelheit, diese Kälte, der Geruch im Heim, das war schon eine sehr anstrengende Zeit.
Wie lange hast du gebraucht, bis du dich als Freiwilliger eingelebt hast?
Auf der Arbeit ging das ziemlich schnell. Wir waren ein gutes Team und wir sind auch sehr gut betreut worden. Damals am Anfang war noch Dominik da, Ilona und Marina Manewskaja. Wir haben auf der Arbeit ziemlich schnell gelernt, dass wir ganz schön viel machen können. Es war ja niemand anders außer uns da. Also außer den Sanitarka. Wir hatten ziemlich schnell das Gefühl, dass wir gebraucht werden. Und das war toll, dieses Gefühl. Es war gleichzeitig auch eine große Verantwortung. Wenn du früh im Bett gelegen hast und der Wecker geklingelt hat, dann wärst du am liebsten im Bett geblieben. Aber dann hast du gedacht, wenn ich heute im Bett bleibe, dann bleiben alle Kinder in meiner Gruppe auch im Bett. Also bist du aufgestanden. Es war eine sehr starke Motivation. Ich hab zugegeben die ersten acht Wochen nur Butter und Brot gegessen, weil ich mir nichts anderes im Laden kaufen konnte. Da gab es ja noch diese „Otdelenie" und sich da ohne Russischkenntnisse was zukaufen war kaum möglich. Das hat schon noch eine Weile gedauert, aber das wichtigste sind ja immer die menschlichen Beziehungen. Und weil die menschlichen Beziehungen gut waren, dann hab ich mich auch schnell wohl gefühlt und mich an alles gewöhnt, weil wir ein gutes Team waren und weil wir gut betreut wurden.
Wie war das damals mit dem staatlichen Personal, den Sanitarkas? War das auch eine große Konfrontation?
Das hing auch wieder von der konkreten Sanitarka ab. Es gab Sanitarkas, mit denen es sehr schwierig war, weil die eigentlich nicht wollten, dass du da bist. Und es gab Sanitarkas, die sehr froh waren, dass du da bist. Und mit denen, die froh waren, war es sehr schön zu arbeiten. Mit denen, die nicht froh waren, dass du da bist, musste man sich irgendwie arrangieren. Das war manchmal schwierig. Es war natürlich nur deswegen schwierig, weil ich ja irgendwas für die Kinder wollte, ich wollte ja nichts für mich, es ging ja um die Kinder. Ich wollte, dass die Kinder was trinken können und die Sanitarka wollte das nicht, weil wenn die Kinder was trinken, dann pinkeln sie ein und dann musste sie das wieder neu machen. Ich hab natürlich auch erst im Laufe der Zeit verstanden, was die Gründe für das Verhalten der Sanitarkas ist, und dass sie dieses Verhalten haben, nicht weil sie böse Menschen sind sondern weil es in ihrer Welt auch Sinn macht, so zu sein. Wir waren ja auch nicht die ersten Freiwilligen, also wussten wir schon von unseren Vorgängern, dass es diese Auseinandersetzung mit den Sanitarka gab und warum es die gab.
Wo hast du die Kraft und Unterstützung bekommen um jeden Tag diese schwere Arbeit zu machen?
Es war schon so eine innere Motivation, die, glaub ich, jeder Freiwillige gehabt hat, der dahin gekommen ist. Das waren, denke ich, alles Menschen, die eine starke innere Motivation hatten. Ich hab auch schon eine tolle Familie in Deutschland, denen ich das natürlich auch alles erzählt habe und die mich unterstützt haben. Und dann haben wir Freiwilligen uns untereinander auch sehr gut unterstützt. Wir haben uns echt gut verstanden, und man hat halt diese Entscheidung getroffen; jetzt dieses eine Jahr zu machen. Es war ja auch klar, dass es nur ein Jahr ist und wenn ich weiß, dass es in einem Jahr wieder vorbei ist, dann ist es was Anderes, als wenn es jetzt mein Leben lang gewesen wäre. Deswegen hab ich mich dann entschieden, ich mache das jetzt ein Jahr, dann mache ich das auch ein Jahr. Und dann hab ich nicht jeden Tag hinterfragt, ob ich jetzt weitermachen oder aufhören soll. Die Frage habe ich mir eigentlich nie gestellt.
Wie alt warst du in deinem ersten Freiwilligendienst?
2000 im November bin ich 20 geworden. Das war toll, da bin ich nach Tallinn gefahren. Ich bin abends vor meinem Geburtstag in den Zug gestiegen und am nächsten Morgen war ich in Tallinn. Meinen ganzen Geburtstag bin ich alleine durch Tallinn gelaufen und dann war ich abends noch in einem Pub und hab noch ein Konzert gehört. Dann bin ich spätabends wieder in den Zug gestiegen und am nächsten Tag war ich wieder in St. Petersburg. Ich bin in meine Wohnung in der Dostoyevskaya gegangen und da lagen lauter Luftballons, Kuchen und eine Nachricht von meinen anderen Freiwilligen auf dem Tisch, „Ahh das ist so gemein, dass du nicht da warst. Wir haben hier auf dich gewartet."
Wie war die Integration in Russland? Hast du auch abgesehen von der Organisation andere Russen getroffen?
Das war sehr sehr schwer. Also für mich war es sehr schwer, weil ich die russische Sprache nur sehr sehr schlecht konnte und es war schwer Russen außerhalb der Arbeit kennenzulernen. Es ist mir auch eigentlich nicht wirklich gelungen. Ich hab kaum Kontakt zu Russen außerhalb der Arbeit gehabt. Also ich hab natürlich andere Ausländer in St. Petersburg kennengelernt und mit denen hab ich auch was gemacht, aber russische Jugendliche kennenzulernen hat nicht geklappt. Und es ging den Anderen auch so, sie haben auch keine Freundschaften geschlossen. Es ging also nicht.
Hast du noch weiter Kontakt mit Freiwilligen von damals?
Ja, mit einigen habe ich noch Kontakt. Also zum Beispiel mit Margret. Wir haben uns in letzter Zeit besucht. Sie wohnt jetzt gar nicht so weit weg von mir. Mit Hannah und Susann hab ich auch Kontakt gehalten. Wobei man sagen muss, dass der Kontakt zwischendurch weg war. Aber in den letzten 3 bis 4 Jahren ist er wieder ein bisschen wieder gekommen und ich wollte eigentlich im letzten Jahr ausmachen, dass wir uns mal wieder treffen. Das hat ja dann Corona nicht möglich gemacht, aber wenn das dieses Jahr möglich ist, dann möchte ich auf jeden Fall die Leute einladen, mit denen ich damals in Petersburg war.