Ich habe mir für den Rest meines Lebens das Sprichwort gemerkt, dass "Ordnung sein muss".

Photo: Egor Balaschow
Shenja, erzähl uns bitte, wann warst du Freiwillige und wo?

2003-2004 in einem Dorf bei Dresden, in Sachsen.

Wie bist du auf das Freiwilligenjahr aufmerksam geworden und warum hast du dich entschieden hinzugehen?

Ich habe an der Raoul-Wallenberg-Hochschule studiert und alles dort erfahren. Warum ich mich entschieden habe zu gehen, weiß ich nicht. Jugend, Lust nach Abenteuer und etwas Neuem – das ist alles.

Und was ist aus dieser Zeit geworden?

An dieses Jahr erinnere ich mich noch heute. Ich glaube, alles hat sich auf „vorher" und „nachher" aufgeteilt. Ich kann nicht sagen, dass das Jahr einfach war, dabei war es sehr interessant, sehr unterschiedlich. Es gab Zeiten, in denen es hart und einsam war, es gab Zeiten wahnsinniger Freude und alles war sehr warmherzig.

Du sagtest, die Zeit habe sich auf „vorher" und „nachher" aufgeteilt. Kannst Du es näher erläutern?

Wahrscheinlich liegt das daran, dass das Jahr solchen Einfluß auf mich hatte ... wie ein Persönlichkeitsentwicklungstraining. Auf mich als Person. Auf meine Ansichten, meinen Lebenskreis, weitere Tätigkeiten. Dort habe ich meinen Mann kennengelernt...

Mittlerweile ziehen es viele Freiwillige vor, nach dem Freiwilligenjahr in Deutschland zu bleiben. Hast du dir auch diese Frage gestellt – zürückkehren oder bleiben?

Ehrlich gesagt, als ich hinging, dachte ich, dass ich meine wissenschaftliche Arbeit dort fortsetzen könnte. Ich hatte sogar mein Diplom dabei. Doch am Ende des Jahres dachte ich nicht daran, dass ich bleiben könnte. Obwohl es Möglichkeiten gab, man blieb schon, manche zum Studieren, manche zum Arbeiten. Jemand setzte das Freiwilligenjahr fort.

Damals, als du gereist bist, hat es noch keine Handys gegeben, oder? Wie bist du in Kontakt mit deiner Familie und Freunden in Russland geblieben?


Ich hatte schon ein Handy, aber meine Eltern in Russland hatten es nicht. Es gab auch kein zugängliches Internet und nicht jeder hatte einen Computer. Es gab einen Festnetzanschluss. Ich hatte Telefonkarten, mit denen man mit Russland günstiger telefonieren konnte. Außerdem haben wir Briefe geschrieben, ich erinnere mich immer noch daran. Wir haben einander Briefe mit eigenen Händen geschrieben, sie zum Briefkasten gebracht und dann auf eine Antwort gewartet.

Photo: Egor Balaschow
Gab es in Deutschland etwas, was dich sehr überrascht hat?

Ja, etwas überraschte mich besonders positiv. Ich wohnte in einem kleinen Dorf und wenn ich mich anfangs verlief und nicht weiter wusste, reagierten Menschen und kamen zur Hilfe. Ich war froh, dass sie nicht sagten: „Ich verstehe nicht", sondern mich zur richtigen Stelle schickten. Und natürlich die übliche Kaffeepause mit dem unentbehrlichen Kuchen. Ich ging zu einer Lehrerin - sie lebt leider nicht mehr - es war eher kein Deutschunterricht, sondern Unterhaltung, und danach gab es immer Kaffee mit einem Leckerbissen.
Ich erinnere mich noch daran, dass ich mein Zimmer in einem nicht so guten Zustand nach dem ehemaligen Freiwilligen bekommen habe. Ich ging zum Leiter und erzählte das auf gut Glück. Eines Tages komme ich nach Hause – und da klebt man die Tapeten neu, die Vorhänge sind bereits genäht, man kaufte und stellte mir sogar eine Blume hin. Ich habe mir für den Rest meines Lebens das Sprichwort gemerkt, dass "Ordnung sein muss".
Eine weitere Erinnerung. Ich arbeitete in einem betreuten Wohnhaus. An Wochenenden gab es weniger zu tun. Und an einem Sonntagmorgen sagt eine Mitarbeiterin zu mir: „Shenja, lass uns Sekt trinken!" Das war merkwürdig für mich, denn es gibt ein Klischee, dass Russen Alkohol missbrauchen und hier hat es mir im Gegenteil eine Deutsche angeboten. Das war so locker, so einfach.

Erzähl bitte mehr über dein Projekt. Wie war es? Kompliziert? Was genau hast du da gemacht?

Es ist ein kleines Dorf, in dem sich ein altes Nonnenkloster befindet. Auf dem Klostergelände gibt es einen ganzen Komplex, wo Menschen mit unterschiedlich schweren Behinderungen leben und arbeiten: eine Schule, Werkstätten... Ich arbeitete in einem Haus, wo die schwächsten Frauen lebten. Sie besuchten keine Schule und arbeiteten nicht. Klingt ein bisschen langweilig, aber sie lebten einfach. Meine Aufgaben waren Pflege, Spaziergänge, Hilfe bei der Einnahme von Mahlzeiten. Grundsätzlich war durch Ausbildung und Praktikum alles klar und ich hatte keine Fragen. Die Kolleginnen und Kollegen unterstützten mich bei Bedarf. Auch der Chef, Leiter der Anstalt, half mir. Es gab auch eine deutsche Freiwillige aus dem hiesigen Dorf.

Warst du durch diese monotone Pflegetätigkeit nicht traurig?

Nein, weil die Arbeit unter den Mitarbeitenden und Freiwilligen gleichwertig aufgeteilt war. Alles war fair.

Was würdest du den Menschen sagen, die ein Freiwilligenjahr in Deutschland machen wollen?

Sich wagen, fahren und sich vor nichts fürchten. Das ist ein erstaunliches Abenteuer. Verstehen, dass das Jahr unterschiedlich sein wird und dass es normal ist. Man sollte nicht erwarten, dass alles super wird, denn es wohnen dort auch Menschen. Lernt die Sprache hier oder dort, wenn ihr ankommt, tut euer Bestes, damit die Leute euch verstehen. Und habt Spaß!
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