Ja das ist sehr verständlich. Was sind denn so ein, zwei Momente von deinem Freiwilligenjahr, dass ja schon eine Weile her ist, die dir noch sehr im Kopf hängen geblieben sind?
Ja also, natürlich wars auch echt eine harte Zeit. Im Behindertenheim waren die Zustände gar nicht schön. Nach meinem Jahr habe ich nochmal zwei Sommer dort ausgeholfen und hatte dann etwa 20 Jahre keine Berührungspunkte mit dem Heim. Ich habe nur die Berichte gelesen. Ich war erst wieder vor zwei Jahren dort. Da hat sich unheimlich viel geändert. Ich habe mich dann damals auch entschieden in der schwächsten Gruppe im schwächsten Corpus im Heim zu arbeiten, weil ich dachte, ich komme damit auch ganz gut klar. Es war so, dass, ich glaube, von den 12 Kindern, die da in meiner Gruppe waren, 8 das Jahr nicht überlebt haben. Also das heißt nicht, dass nur 4 am Ende übriggeblieben sind, sondern dass ein Problem war ja immer der Übergang vom Säuglingsheim ins Kinderheim. Also es kamen neue Kinder, die dann den Übergang nicht geschafft haben. Also das war natürlich krass das mit 18, 19 mit anzusehen. Aber andererseits hat mir die Arbeit auch unheimlich viel gegeben. Die teilweise tollen Entwicklungen, die die Kinder gemacht haben in kürzester Zeit. Oder auch einfach das Lächeln, mit dem man da morgens begrüßt wurde. Das war natürlich unheimlich schön und ich hatte auch viel Unterstützung von den Mitarbeitern, von anderen Freiwilligen. Wir haben uns da gut gestützt, insofern kam ich damit gut klar, es war natürlich nicht einfach. Ich fand's unheimlich schön mit den Kindern mit besonderen Bedürfnissen arbeiten zu können. Und hab auch überlegt, ob ich das dann beruflich machen werde, bin dann aber doch auf eine andere Schiene gekommen. Damals meinte mein Mitfreiwilliger Martin, dass er Politikwissenschaften studieren möchte, und ich habe mir gedacht, dass hört sich spannend an und hab das dann auch einfach gemacht.
Weißt du was mit dem Rest der Kinder geworden ist, die quasi damals das Jahr überlebt hatten?
Ich weiß nur noch von zwei. Eine Frau, die ist jetzt in Peterhof, glaube ich, die Julia. Aber ich habe sie danach nie wieder gesehen. Und Sonja, ein Mädchen damals, jetzt eine Frau, die ist jetzt in eine der Wohngruppen gezogen, die sich im Rahmen des Projektes dom nawsegda oder wie das jetzt heißt eingerichtet wurden. Also das hat mich natürlich sehr gefreut zu sehen. Sonst habe ich den Kirill und Dina, die viele auch kennen, die nicht in meiner Gruppe waren, die ich aber von damals kenne, die habe ich bei dem Jubiläum von Perspektivy wieder getroffen, ich glaube, 20 Jahre Perspektivy, und das war wirklich auch ganz toll. Kirill hat mich gesehen und gleich geschrien „Gunda!" und wir hatten uns 20 Jahre nicht gesehen. Und haben uns dann ganz doll umarmt. Das war ganz toll. Überrascht hat mich da aber dann auch, dass ich nicht wusste, für uns waren das ja Kinder, die wir betreut haben, aber da stellte sich dann raus, Kirill ist irgendwie 2 Jahre jünger als ich. Der ist auch schon Anfang 40. Das war dann irgendwie komisch, aber es war sehr schön, ihn wieder zu sehen.
Erstaunlich, dass er dich trotzdem nach so einer langen Zeit wiedererkannt hat. Wie war denn damals für dich, das Jahr hat dich ja sehr geprägt, als du wieder nach Deutschland zurückgekehrt bist. Wie hast du dich dann wieder zurechtgefunden?
Ich habe mich wieder ganz gut zurechtgefunden. Dann begann quasi eine neue Phase. Ich habe ja dann angefangen in Berlin zu studieren und hatte auch viel Kontakt mit Leuten, die in Russland gewesen waren oder bin zu der Zeit öfter hingefahren. Ist ja letztendlich auch nicht so weit weg, auch wenn es eine andere Welt ist. Also nein, es fiel mir nicht schwer. War auch schön, eine neue Phase zu starten.
Nochmal zu den Momenten. Kannst du dich an konkrete Momente erinnern, die für dich besonders schön waren und Momente, die besonders schwer waren?
Schwer fand ich immer oder grad am Anfang, wenn ich so da ins Heim kam, die Gerüche. Ein Mischmasch aus Klogeruch und schrecklichem Putzmittel, ekligem Essen oder weiß ich nicht was da zusammenkam. Das fand ich immer morgens, wenn man grad gefrühstückt hat, immer ein bisschen schwierig. Und dann natürlich auch wie teilweise die Sanitarki mit den Kindern umgegangen sind. Das war manchmal schwer zu ertragen, aber andererseits gab es natürlich, wie ich es vorhin schon ein bisschen andeuten lassen habe, tolle Momente, weil sich die
Kinder einfach, wenn man sie so ein bisschen aus dieser Verlassenheit herausgeholt hat, also wie schnell die sich dann geöffnet haben, wie die einen angelacht haben und wie dankbar die einfach waren, dass man sie aus den Betten rausgeholt hat. An ein Mädchen kann ich mich erinnern, sie war schon acht damals. Sie hat dann innerhalb weniger Monate laufen gelernt oder wie andere sprechen gelernt haben oder insgesamt so mit Händen und Füßen zu kommunizieren. Also das war wirklich toll und hat mir unheimlich viel gegeben.
Was für Möglichkeiten hattet ihr damals in Pawlowsk, euch mit den Kindern zu beschäftigen?
Wir hatten ein Spielzimmer mit verschiedenen Hilfsmitteln. Mit Säcken mit Massagesachen, Spielsachen. Wir haben dann immer einzelne Kinder rausgeholt und haben mit denen so eine Art Gymnastik gemacht, gesungen, getanzt, kleine Spiele. Ja solche Sachen. Ich glaube, ein besonderes Highlight der Woche war der Badetag. Ich kann mich erinnern, wie Kinder mit Spasmen sich super entspannt haben im warmen Wasser. Da haben wir uns auch immer die Ruhe genommen, dass sie das genießen können. Das war, glaube ich, sehr schön und dann auch dass wir ja teilweise die Kinder eben in irgendwelche Rollstühle oder Wagen setzen konnten oder so Tragetaschen und dann sind wir mit denen spazieren gegangen und dann sind wir mal auf den Markt gegangen und die Leute haben uns da angeguckt, wie als ob wir vom Mond kämen. Aber wir haben einfach da unser Ding gemacht und die Kinder haben das sehr genossen, an der frischen Luft zu sein, was anderes zu sehen, was anderes zu riechen.
Wie viele Freiwillige wart ihr damals in Pawlowsk oder in ganz St. Petersburg?
Das wechselte immer so ein bisschen. Ich glaube, wir waren vier, die das ganze Jahr blieben, und da waren noch zwei andere ausländische Freiwillige, die ein halbes Jahr blieben.
Was würdest du zukünftigen Freiwilligen mit auf den Weg geben?
Da fällt mir jetzt nichts spontan ein. Ich kann nur mitgeben, dass es eine Riesenchance ist, sowas erleben zu können. Ich glaube, das bringt einen fürs Leben. Ich glaube das hat auch meinen weiteren Lebensweg sehr geprägt. Ich wollte danach immer weiter ins Ausland, andere Kulturen kennenlernen, ich hab ja dann auch in Tadschikistan, Afghanistan und Kosovo gelebt und finde das eine ganz tolle Erfahrung. Dieser Punkt bei einer Familie zu wohnen, bei Russen zu wohnen. Also mir war das sehr wichtig, um die Sprache und die Kultur richtig gut kennen zu lernen. Das war echt ein großer Vorteil und sonst alles Mögliche mitzunehmen, was man dort so erleben kann.