Hast du einen Lieblingsplatz in Sankt Petersburg oder einen Ort?
Hm, gute Frage. Also erstmal Sankt Petersburg ist ja soo riesig. Das hat mich total überrascht. Ich hab da ein Jahr gelebt und trotzdem bin ich immer wieder an neue Plätze gekommen, die ich noch nie gesehen hatte und hatte keine Ahnung von diesem Stadtteil. Deswegen ist es schwer, so einen Lieblingsort zu sagen. Es ist vermutlich der Klassiker, aber ich fand es einfach sehr sehr schön am Fluss, dort an der Eremitage und dann wenn man an den Fluss gegangen ist, gibt es sehr viele Brücken, die auch nachts hoch gehen. Ich fand es dort immer so einen romantischen Ort irgendwie, wo man so lang spazieren konnte und, ja, das war, glaube ich, einer meiner Lieblingsorte. Da hatte ich auch einen sehr schönen Moment im Winter als die Newa – also der Fluss - zugeschneit war und komplett vereist. Da hatte ich einen Tag, da musste ich nicht arbeiten, aber es hatte irgendwie auch gerade keiner Zeit, alle mussten arbeiten, und dann bin ich einfach alleine in die Stadt spazieren gegangen und bin auch über den Fluss gelaufen, was vielleicht bisschen dumm war, weil das Eis nicht immer so dick ist, aber es haben viele andere gemacht und deswegen habe ich es auch gemacht. Es war ein ganz und wirklich wundervolles Gefühl da drüber zu laufen.
Du hast am Anfang gesagt, dass du Bedenken wegen des langen Wegs nach Peterhof hattest. Wie war dein Arbeitsweg und woher hast du die Motivation genommen, den Weg jeden Morgen zu fahren?
Ehrlich gesagt, ich komme aus Dresden, und es ist in Deutschland so eine mittelgroße Stadt, und die Wege sind da einfach nicht so lang. Deswegen war natürlich, als die mir beim ICE gesagt haben, dass der Weg einfach 1 bis 2h lang ist, ein Schock für mich und ich dachte mir „Oh mein Gott. Das ist ja mein ganzer Tag". Tatsächlich, aber man gewöhnt sich so schnell daran, weil Sankt Petersburg halt einfach riesig ist, und es ist ganz normal 1 oder 2h zur Arbeit zu fahren. Das machen viele. Deswegen ist es gar nichts unnormales und mir ist es gar nicht mehr aufgefallen. Also erstens im Peterhof fängt man etwas später an. Wir haben immer so um 8.30 angefangen und haben noch etwas Tee vor der Arbeit getrunken. Also in Wirklichkeit haben wir so um 9 angefangen, ganz entspannt. Also musste man auch nicht so super früh aufstehen und ich hatte Glück, meine Wohnung war etwas außerhalb des Zentrums, aber dafür hatte ich es auch etwas weiter ins Zentrum der Stadt. Ich bin etwas über 1h gefahren, aber das war gar kein Problem. Wir waren einfach ganz viele Freiwillige, die alle mit dem Zug gefahren sind. Wir haben dann die ganze Zeit gequatscht, wir haben die Zeit genutzt, um sehr viele Filme zu schauen. Wir haben am Anfang auch, aber auch das ganze Jahr viel Russisch geübt, Vokabeln uns gegenseitig abgefragt, oder einfach auf Russisch geredet, viele Bücher gelesen und die Zeit ist einfach vergangen – verflogen - das hat man gar nicht mehr gemerkt, einen gar nicht gestört. Manchmal konnte man auch noch etwas im Zug schlafen, was auch gut war, wenn man die Nacht davor spät nach Hause gekommen ist. Dann mussten wir vom Zug aus nochmal etwa 15 Minuten bis zum Peterhof laufen und das ist aber ein richtig schöner Weg. Man ist mitten im Grünen, da ist überall Wald um einen rum und zu jeder Jahreszeit sieht es anders aus. Natürlich kann es im Winter bei -20 oder -30 Grad auch ein langer Weg sein, aber wir waren immer warm angezogen. Von daher hat es richtig Spaß gemacht – auch der Weg hin und zurück.
Kannst du dich an die schönsten drei Momente im Projekt erinnern?
Spontan fallen mir erstmal zwei ein. Das waren wirklich die allerschönsten Momente. Genau der erste Moment war Anfang des Jahres. Also ich hatte 6 Jahre Russisch in der Schule, aber wir hatten nicht immer die besten Lehrer und ich konnte noch nicht so gut Russisch, wie ich das gewollt hätte. Also habe ich versucht, mein Russisch viel zu verbessern und habe gesagt, dass ich meiner Gruppe von wie gesagt 13 Männern Bücher vorlese. Wir hatten viele russische Bücher da, also habe ich angefangen vorzulesen. Aber ich glaube, am Anfang klang mein Vorlesen mehr deutsch als russisch, weil ich wirklich sehr schlecht gelesen habe. Ich glaube, sie haben nicht so viel verstanden von dem, was ich vorgelesen habe, aber sie saßen immer da und haben mir zugehört. Im Laufe des Jahres ist mein Russisch auch besser geworden. Ein richtig schöner Moment war einfach, gegen Ende des Jahres sind immer wieder, also regelmäßig Leute aus meiner Gruppe zu mir gekommen und haben gesagt „Luise, Luise, kannst du uns was vorlesen. Guck mal, wir haben das Buch hier. Lies uns was vor!" und das war einfach so ein schöner Moment. Ich habe das angefangen und sie haben das einfach voll genossen und dann haben wir immer zusammen gelesen. Das hat voll Spaß gemacht. Das war ein Moment. Der zweite Moment war, ich hatte einen Mann, der saß im Rollstuhl, weil er, glaube ich, vor einigen Jahren seine Hüfte mal gebrochen hatte und seitdem nicht mehr gelaufen ist, weil er sich auch nicht getraut hat. Es gab zu der Zeit, als ich dort war, glaube ich, auch keine Physiotherapie für die Menschen und niemand hat mit ihm laufen geübt. Er hatte einfach auch Angst und war schon seit einigen Jahren im Rollstuhl und dann bauen sich natürlich die Muskeln ab und alles. Am Anfang hatten wir noch nicht so viel Kontakt, er war sehr unauffällig, hat nicht geredet und ich hatte einfach eine sehr große Gruppe zu betreuen, und es war schwer für alle so viel Zeit zu finden. In der zweiten Hälfte des Jahres habe ich richtig gemerkt, dass er eigentlich total viel kann, aber halt nicht so auf sich aufmerksam macht. Und dann habe ich angefangen, viel mit ihm zu machen, und das war ein toller Moment. Ich habe nämlich mitbekommen, dass er Badminton spielen kann, so ein bisschen. Also sind wir immer in einen Raum gegangen und haben zusammen Badminton gespielt. Ich war total überrascht, dass er das so gut hinbekommt, auch mit der Koordination, und das hat ihm sehr viel Spaß gemacht – mir auch, weil ich das auch immer in Deutschland gespielt habe. Das war sehr lustig. Der krasseste Moment war wirklich, also der prägendste Moment für mich in dem Jahr und ein sehr großer Erfolg für mich: er hat fast niemandem vertraut, zumindest nicht so richtig, und wir hatten mit der Zeit eine sehr enge Verbindung und er hat mir immer mehr Sachen vertraut. Also Sachen, die er mit anderen nicht gemacht hat, hat er mit mir gemacht. Einmal hatten wir Banja – also wenn alle gewaschen werden – und sein Rollstuhl war aber in einem anderen Zimmer, dann habe ich zu ihm aus Witz gesagt „Komm, komm, steh mal auf, wir laufen ein bisschen" und dann habe ich ihn tatsächlich überreden können. Er hat seine Arme um meinem Hals gelegt und ist dann mit mir aufgestanden und ist ein paar Schritte gelaufen und das war wirklich ein riesiger Erfolg. Auch meine Pädagogin meinte, das hat er noch nie gemacht. Seitdem er den Unfall hatte, ist er nie wieder gelaufen. Das war ein schöner Moment und ist mir so spontan eingefallen.
Wenn du vorab wüsstest was auf dich zukommt, würdest du nochmal einen Freiwilligendienst machen?
Auf jeden Fall. Also 100%, ich wäre mir sehr sicher. Natürlich muss man irgendwann mit dem Studium oder der Ausbildung oder der Arbeit weiter machen. Ich wäre trotzdem sehr gerne geblieben und wenn jetzt nicht Corona dazwischen gewesen wäre, wären zum Beispiel Tatjana und ich schon letztes Jahr, oder dieses Jahr sicher – also wir planen immer noch – wieder hingefahren. Vielleicht auch für eine längere Zeit. Ich glaube auch, dass jeder von uns Freiwilligen, der dort war, es jeder Zeit nochmal machen würde. Also hatte ich das Gefühl, wenn ich mit Leuten geredet habe, alle vermissen es, alle vermissen Sankt Petersburg und die Arbeit und die Leute und wollen sie wirklich dringend wieder sehen.