Interview mit Luise Graff

Wieso hast du dich entschieden nach Sankt Petersburg zu fahren und dort einen Freiwilligendienst abzuleisten? Wieso hast du dich für Peterhof entschieden und nicht für ein anderes Projekt von uns?

Ich wollte nach Russland, erstens weil ich in der Schule 6 Jahre russisch gelernt habe und da schon ein bisschen mehr über die Kultur und die russische Sprache gelernt habe. Mich hat es einfach sehr interessiert und ich war auf zwei Austauschen mit Kaliningrad und habe da dann sehr sehr nette russische Leute kennen gelernt, mit denen ich auch noch Kontakt hatte. Deswegen hatte mich schon vor der Idee ins Ausland zu gehen viel mit Russland verbunden. Auch in meiner Schule gab es viele Russen und Ukrainer und mit denen hatten wir auch sehr guten Kontakt, das waren Freunde von mir und sie haben mir auch sehr viel erzählt. Deswegen kam so bisschen mein Wunsch dann nach Russland zu gehen zu Stande. Außerdem wollte ich die Sprache viel besser lernen und Sankt Petersburg ist natürlich eine wunderschöne Stadt, von der ich viele Bilder gesehen und von der ich viel gehört hatte, viele Leute waren schon da. Da wollte ich auf jeden Fall auch mal hin und die Vorstellung dort ein Jahr zu leben hat mich auf jeden Fall sehr gereizt. Warum ich nach Peterhof wollte, ist eine gute Frage. Ich habe von einigen Projekten gehört durch den ICE (Initiative Christen für Europa e.V.). Ehrlich gesagt hat mich das am Peterhof erstmal abgeschreckt, dass er so weit weg ist und da wollte ich am Anfang nicht so richtig hin. Dann habe ich nochmal mit den Leuten vom ICE geredet und ich fand das Projekt auf jeden Fall spannend. Dann haben sie gedacht, dass mein Charakter gut in den Peterhof passt, und haben mich da hingeschickt. Das war auch echt die beste Entscheidung, meiner Meinung nach. Alle Projekte sind sehr cool, ich habe jetzt natürlich ein Jahr im Peterhof gearbeitet. Ich liebe das Projekt und die Leute dort. Es hat einfach sehr sehr viel Spaß gemacht und es hat mir die Chance gegeben, ich sage gern so, „richtiges Russland" kennen zu lernen, so bisschen auch von einer ganz anderen Seite.

Du hast gesagt, dass du die Vorstellung hattest, dass Sankt Petersburg eine Wunderschöne Stadt ist. Hat diese Vorstellung der Realität entsprochen?

Was die Stadt angeht auf jeden Fall zu 100%! Ich habe mich sehr in Sankt Petersburg verliebt. Ich bin auch davor oft gereist und habe mich in vielen Ländern und Städten sehr wohl gefühlt. Aber Sankt Petersburg war wirklich so eine Erfahrung… Ich bin da hingekommen und habe es vom ersten Moment an geliebt. Ich komme ursprünglich aus Dresden und Dresden hat auch eine sehr alte Architektur und Altstadt und Sankt Petersburg, sag ich immer so, ist Dresden nur 10mal größer. Und es ist sehr sehr schön, deswegen hat es meine Erwartungen noch übertroffen. Ich fand es noch schöner als ich es mir vorgestellt habe. Es ist eine riesig große Stadt und man kann viele coole Dinge dort machen.

Was war das Wichtigste, dass du in deinem Freiwilligenjahr gelernt hast?

Das ist eine sehr gute Frage, ich würde sagen, ich habe in diesem Jahr wirklich sehr sehr viele Dinge gelernt. Sehr viel über das Land an sich, aber vor allem die Arbeit war eine große Herausforderung und Menschen mit Behinderung haben in Russland noch keine so gute Stellung. Deswegen habe ich dort mal einen ganz anderen Aspekt der Arbeit erlebt und hatte das Gefühl, dass ich dort eine sehr wichtige Arbeit mache. Ich hätte mir natürlich auch vorstellen können, das länger zu machen. Die Arbeit dort ist sehr sehr wichtig und nur ein Jahr ist bisschen zu kurz. Aber das wichtigste, was ich über mich gelernt habe, ist Geduld zu haben. Im Umgang mit Menschen mit Behinderung dort muss man auf jeden Fall sehr viel Geduld haben, das hatte ich davor nicht so und das habe ich dort gelernt, was sehr wertvoll war. Ich fand das eine ganz ganz wichtige und tolle Erfahrung mit einer Gruppe von Menschen zusammen zu arbeiten, mit der ich davor nicht so viel Kontakt hatte – fast gar keinen. Dort habe ich die Chance dazu bekommen und habe gesehen, dass es wunderbare Menschen sind, ganz ganz tolle Menschen sind mit ganz viel Liebe und Freude. Das hat mir eine ganz andere Welt eröffnet.

Schön! Hast du noch Kontakte zu ehemaligen Freiwilligen?

Ja, ich habe dort meiner Meinung nach sehr gute Freunde gefunden mit denen ich jetzt noch Kontakt habe, mit meiner Mitbewohnerin vor allen Dingen. Mit Tatjana, mit der ich zusammen gelebt habe. Wir haben in dem Jahr alles zusammen gemacht. Wir sind jeden Tag zusammen auf Arbeit gegangen, sind zusammen in jeden Urlaub gefahren und haben wirklich alles zusammen gemacht. Das ist eine wirklich sehr enge Freundin von mir geworden. Dann habe ich noch zu einigen anderen Freiwilligen Kontakt, sehr guten. Einige Freiwillige von uns sind danach auch nach Deutschland gekommen, haben hier ihr Freiwilliges Jahr gemacht und sind auch geblieben und machen jetzt hier ihre Ausbildung. Es sind einfach sehr enge Freundschaften geworden, die ich sehr sehr schätze.

Wie war deine Sozialisation in Sankt Petersburg?

In Sankt Petersburg waren wir eine große Gemeinschaft von Freiwilligen und man hat schnell Anschluss gefunden gehabt und viele Kontakte, was sehr schön war. Weil man sich auch Austauschen konnte über die Arbeit und seine Erfahrungen, das waren viele Menschen aus verschiedenen Ländern, also ja, da hatte man auf jeden Fall immer gute Verbindungen und Freundschaften und in Russland selber, also auf der Arbeit war es nicht immer so einfach, mit Russen in Kontakt zu kommen. Ich hatte noch von meinem Austausch die Freundin, die zufälligerweise in Sankt Petersburg studiert hat, und wir haben viel gemacht, das war sehr schön. Sonst habe ich noch über frühere Kontakte, es gab ja auch von unserer Organisation viele Freiwillige, die aus Russland nach Deutschland gekommen und wieder nach Russland zurück gegangen sind. Da hatte ich einige kontaktiert, oder sie haben mich kontaktiert und wir haben uns getroffen. Also hatte ich, würde ich sagen, auch Kontakt zu Russen und habe auch immer noch Kontakt nach Sankt Petersburg, zu der Freundin, die da noch immer lebt, oder einige Freunde, die da noch leben, und ich habe regelmäßig Kontakt mit meiner Pädagogin, mit der ich im Peterhof in einem Zimmer gearbeitet habe. Mit Ihr zusammen habe ich die Gruppe von 13 Männern betreut. Wir haben auch noch regelmäßig Kontakt und skypen jeden Monat oder alle zwei Monate und so habe ich auch noch die Chance, „meine Jungs" (sage ich immer gerne – aber es sind natürlich Männer) zu sehen und mit ihnen zu reden und das ist mir sehr wichtig. Ich sehe sie immer noch, ich weiß was passiert, was sie für Fortschritte machen oder was gerade abgeht, und das ist mir auch wichtig. Denn ich möchte sie nicht vergessen und wünsche mir auch, dass sie mich nicht vergessen, weil ich auch irgendwann wieder hinreisen möchte. Vielleicht auch für eine längere Zeit.


Hast du einen Lieblingsplatz in Sankt Petersburg oder einen Ort?


Hm, gute Frage. Also erstmal Sankt Petersburg ist ja soo riesig. Das hat mich total überrascht. Ich hab da ein Jahr gelebt und trotzdem bin ich immer wieder an neue Plätze gekommen, die ich noch nie gesehen hatte und hatte keine Ahnung von diesem Stadtteil. Deswegen ist es schwer, so einen Lieblingsort zu sagen. Es ist vermutlich der Klassiker, aber ich fand es einfach sehr sehr schön am Fluss, dort an der Eremitage und dann wenn man an den Fluss gegangen ist, gibt es sehr viele Brücken, die auch nachts hoch gehen. Ich fand es dort immer so einen romantischen Ort irgendwie, wo man so lang spazieren konnte und, ja, das war, glaube ich, einer meiner Lieblingsorte. Da hatte ich auch einen sehr schönen Moment im Winter als die Newa – also der Fluss - zugeschneit war und komplett vereist. Da hatte ich einen Tag, da musste ich nicht arbeiten, aber es hatte irgendwie auch gerade keiner Zeit, alle mussten arbeiten, und dann bin ich einfach alleine in die Stadt spazieren gegangen und bin auch über den Fluss gelaufen, was vielleicht bisschen dumm war, weil das Eis nicht immer so dick ist, aber es haben viele andere gemacht und deswegen habe ich es auch gemacht. Es war ein ganz und wirklich wundervolles Gefühl da drüber zu laufen.

Du hast am Anfang gesagt, dass du Bedenken wegen des langen Wegs nach Peterhof hattest. Wie war dein Arbeitsweg und woher hast du die Motivation genommen, den Weg jeden Morgen zu fahren?

Ehrlich gesagt, ich komme aus Dresden, und es ist in Deutschland so eine mittelgroße Stadt, und die Wege sind da einfach nicht so lang. Deswegen war natürlich, als die mir beim ICE gesagt haben, dass der Weg einfach 1 bis 2h lang ist, ein Schock für mich und ich dachte mir „Oh mein Gott. Das ist ja mein ganzer Tag". Tatsächlich, aber man gewöhnt sich so schnell daran, weil Sankt Petersburg halt einfach riesig ist, und es ist ganz normal 1 oder 2h zur Arbeit zu fahren. Das machen viele. Deswegen ist es gar nichts unnormales und mir ist es gar nicht mehr aufgefallen. Also erstens im Peterhof fängt man etwas später an. Wir haben immer so um 8.30 angefangen und haben noch etwas Tee vor der Arbeit getrunken. Also in Wirklichkeit haben wir so um 9 angefangen, ganz entspannt. Also musste man auch nicht so super früh aufstehen und ich hatte Glück, meine Wohnung war etwas außerhalb des Zentrums, aber dafür hatte ich es auch etwas weiter ins Zentrum der Stadt. Ich bin etwas über 1h gefahren, aber das war gar kein Problem. Wir waren einfach ganz viele Freiwillige, die alle mit dem Zug gefahren sind. Wir haben dann die ganze Zeit gequatscht, wir haben die Zeit genutzt, um sehr viele Filme zu schauen. Wir haben am Anfang auch, aber auch das ganze Jahr viel Russisch geübt, Vokabeln uns gegenseitig abgefragt, oder einfach auf Russisch geredet, viele Bücher gelesen und die Zeit ist einfach vergangen – verflogen - das hat man gar nicht mehr gemerkt, einen gar nicht gestört. Manchmal konnte man auch noch etwas im Zug schlafen, was auch gut war, wenn man die Nacht davor spät nach Hause gekommen ist. Dann mussten wir vom Zug aus nochmal etwa 15 Minuten bis zum Peterhof laufen und das ist aber ein richtig schöner Weg. Man ist mitten im Grünen, da ist überall Wald um einen rum und zu jeder Jahreszeit sieht es anders aus. Natürlich kann es im Winter bei -20 oder -30 Grad auch ein langer Weg sein, aber wir waren immer warm angezogen. Von daher hat es richtig Spaß gemacht – auch der Weg hin und zurück.

Kannst du dich an die schönsten drei Momente im Projekt erinnern?

Spontan fallen mir erstmal zwei ein. Das waren wirklich die allerschönsten Momente. Genau der erste Moment war Anfang des Jahres. Also ich hatte 6 Jahre Russisch in der Schule, aber wir hatten nicht immer die besten Lehrer und ich konnte noch nicht so gut Russisch, wie ich das gewollt hätte. Also habe ich versucht, mein Russisch viel zu verbessern und habe gesagt, dass ich meiner Gruppe von wie gesagt 13 Männern Bücher vorlese. Wir hatten viele russische Bücher da, also habe ich angefangen vorzulesen. Aber ich glaube, am Anfang klang mein Vorlesen mehr deutsch als russisch, weil ich wirklich sehr schlecht gelesen habe. Ich glaube, sie haben nicht so viel verstanden von dem, was ich vorgelesen habe, aber sie saßen immer da und haben mir zugehört. Im Laufe des Jahres ist mein Russisch auch besser geworden. Ein richtig schöner Moment war einfach, gegen Ende des Jahres sind immer wieder, also regelmäßig Leute aus meiner Gruppe zu mir gekommen und haben gesagt „Luise, Luise, kannst du uns was vorlesen. Guck mal, wir haben das Buch hier. Lies uns was vor!" und das war einfach so ein schöner Moment. Ich habe das angefangen und sie haben das einfach voll genossen und dann haben wir immer zusammen gelesen. Das hat voll Spaß gemacht. Das war ein Moment. Der zweite Moment war, ich hatte einen Mann, der saß im Rollstuhl, weil er, glaube ich, vor einigen Jahren seine Hüfte mal gebrochen hatte und seitdem nicht mehr gelaufen ist, weil er sich auch nicht getraut hat. Es gab zu der Zeit, als ich dort war, glaube ich, auch keine Physiotherapie für die Menschen und niemand hat mit ihm laufen geübt. Er hatte einfach auch Angst und war schon seit einigen Jahren im Rollstuhl und dann bauen sich natürlich die Muskeln ab und alles. Am Anfang hatten wir noch nicht so viel Kontakt, er war sehr unauffällig, hat nicht geredet und ich hatte einfach eine sehr große Gruppe zu betreuen, und es war schwer für alle so viel Zeit zu finden. In der zweiten Hälfte des Jahres habe ich richtig gemerkt, dass er eigentlich total viel kann, aber halt nicht so auf sich aufmerksam macht. Und dann habe ich angefangen, viel mit ihm zu machen, und das war ein toller Moment. Ich habe nämlich mitbekommen, dass er Badminton spielen kann, so ein bisschen. Also sind wir immer in einen Raum gegangen und haben zusammen Badminton gespielt. Ich war total überrascht, dass er das so gut hinbekommt, auch mit der Koordination, und das hat ihm sehr viel Spaß gemacht – mir auch, weil ich das auch immer in Deutschland gespielt habe. Das war sehr lustig. Der krasseste Moment war wirklich, also der prägendste Moment für mich in dem Jahr und ein sehr großer Erfolg für mich: er hat fast niemandem vertraut, zumindest nicht so richtig, und wir hatten mit der Zeit eine sehr enge Verbindung und er hat mir immer mehr Sachen vertraut. Also Sachen, die er mit anderen nicht gemacht hat, hat er mit mir gemacht. Einmal hatten wir Banja – also wenn alle gewaschen werden – und sein Rollstuhl war aber in einem anderen Zimmer, dann habe ich zu ihm aus Witz gesagt „Komm, komm, steh mal auf, wir laufen ein bisschen" und dann habe ich ihn tatsächlich überreden können. Er hat seine Arme um meinem Hals gelegt und ist dann mit mir aufgestanden und ist ein paar Schritte gelaufen und das war wirklich ein riesiger Erfolg. Auch meine Pädagogin meinte, das hat er noch nie gemacht. Seitdem er den Unfall hatte, ist er nie wieder gelaufen. Das war ein schöner Moment und ist mir so spontan eingefallen.

Wenn du vorab wüsstest was auf dich zukommt, würdest du nochmal einen Freiwilligendienst machen?

Auf jeden Fall. Also 100%, ich wäre mir sehr sicher. Natürlich muss man irgendwann mit dem Studium oder der Ausbildung oder der Arbeit weiter machen. Ich wäre trotzdem sehr gerne geblieben und wenn jetzt nicht Corona dazwischen gewesen wäre, wären zum Beispiel Tatjana und ich schon letztes Jahr, oder dieses Jahr sicher – also wir planen immer noch – wieder hingefahren. Vielleicht auch für eine längere Zeit. Ich glaube auch, dass jeder von uns Freiwilligen, der dort war, es jeder Zeit nochmal machen würde. Also hatte ich das Gefühl, wenn ich mit Leuten geredet habe, alle vermissen es, alle vermissen Sankt Petersburg und die Arbeit und die Leute und wollen sie wirklich dringend wieder sehen.

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