Was hat dich in diesem Jahr am meisten unterstützt?
Natürlich waren es die Kontakte, die entstanden, und junge Eiheimische waren sehr gut, zeigten uns viel, wir knüpften tolle Freundschaften, ein echter kultureller Austausch fand statt. Und die Arbeit, natürlich, die Schützlinge. Da war ein Mädchen, sie wollte mich nicht beim Namen nennen und nannte mich drei Monate lang Marina, weil vor mir da eine Freiwillige aus Polen war, die so hieß. Sobald sie mich sah, war es: „Marina und Marina!", ich sagte ihr: „Ich bin Natascha". „Nein, Marina!". Nach drei Monaten setzte ich mich durch, sie sagte endlich „Natascha" zu mir! Sie war mein Liebling, eine junge Frau, sah aber aus wie ein Mädchen von etwa 12 Jahren und war sehr stur: Wenn sie etwas nicht wollte, würde sie es auch nicht tun, man sollte auf sie einreden, sie war so ein Schlaukopf, sehr cool. Eine Bindung entsteht, weil du viel Zeit mit ihnen verbringst. Außerdem gilt dort überall ein Lebensnormalisierungsprinzip, und da man normalerweise einmal im Jahr Urlaub macht, wurden sie auch einmal jährlich als eine Mädchengruppe in den Urlaub gefahren.
Bist du mit ihnen gefahren?
Ja, Freiwillige gehen in der Regel immer mit, sie werden in diesem Moment besonders gebraucht, weil es für Mitarbeitende eine Trennung von der Familie, vom Haushalt ist, und Freiwillige – sie sind so, dass sie es sich leisten können. Und so reisten wir irgendwo nicht sehr weit, machten Bootsfahrten, gingen in den Vergnügungspark, es war sehr lustig, und die Erfahrung einer Rund-um-die-Uhr-Koexistenz mit ihnen war auch interessant.
Überhaupt scheint mir das Jahr der Arbeit dort das Wichtigste gegeben zu haben: Für mich stand nicht die Frage, ob ich in Deutschland bleibe oder nicht, ich wollte zurück, weil ich schon Erfahrung im Kinderheim hatte und wusste, dass man dort etwas ändern konnte, ich wollte es wirklich. Und dafür kehrte ich zurück. Das war nicht nur eine Ansammlung von Erfahrungen, ich sah einfach mit eigenen Augen, wie es überhaupt sein konnte, wie Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft leben konnten, was die Achtung ihrer Würde, ihrer Grenzen bedeutete, wie Erwachsene mit ihnen umgingen, unter welchen Bedingungen sie lebten. Und dieses real erlebte Bild war für mich später viele Jahre in Russland ein Licht am Ende des Tunnels. Als wir hier gegen etwas kämpften und etwas ändern wollten, half mir immer, dass ich eine Vorstellung hatte, wie es sein konnte und wo wir ankommen sollten. Ich hatte oft das Gefühl, dass es für viele junge Russen, wenn sie kein solches Bild hatten, schwerer war. Ich erlebte eine sehr starke innere Transformation: Ich kam aus Sibirien, aus einer klassischen sowjetischen Familie, die ohne Luxus lebte und diesen nie gesehen hatte. Wir hatten immer noch Geschäfte, in denen man mit dem Finger zeigen musste, was aus dem Regal gegeben werden sollte. Und dann kam ich nach Deutschland und sah die Läden, wo du halt alles aus den Regalen selber nimmst, alles in Fülle, sehr viele Versuchungen. Und hier sah ich Kinder mit Behinderungen, die bereits in Einzelzimmern lebten, sie hatten eigene Geräte, Ausstattungen, jeder hatte sein Tonbandgerät, sein Telefon. Ich sah, dass es so richtig war, und das waren gerade jene Grenzen und der Privatraum, und das war eine Erfahrung, durch die wir irgendwie erwachsen wurden, und das war eine interessante Erfahrung des Erwachsenwerdens für mich, ich konnte viel davon im beruflichen Sinne mitnehmen.
War es danach nicht schwierig, nach Hause zurückzukehren?
Schon als das Jahr zu Ende kam, wusste ich, dass ich bei Perspektivy arbeiten werde, ich hatte Glück, dass ich mit Gewissheit zurückkehrte, dass man auf mich wartet, eine Arbeit auf mich wartet, und mit Elan gefüllt wollte ich meine Erfahrung weitertragen. Und ich trug sie viele Jahre bei Perspektivy weiter, der Auftrieb, den ich in Deutschland erhielt, war sehr gut. Genau deswegen fiel mir die Rückkehr nicht schwer, dazu noch blieb hier in Sankt Petersburg der Kontakt mit Deutschen weiter bestehen, denn weitere Deutsche kamen jedes Jahr, es geschah so, dass ich in diesem System blieb, es blieb mit mir und ich konnte es irgendwie weiter benutzen.
Und deine Kollegin, die Freiwillige aus Ungarn, hattest du mit ihr später Verbindung?
Mit der Ungarin war es in der Tat nicht einfach. Es stellte sich heraus, dass sie eine russische Mutter hatte, und sie sprach Russisch, noch sprach sie gut Deutsch, aber sie mochte mich aus irgendeinem Grund von Anfang an nicht. Ich vermute, dass sie sich ihrer russischen Zugehörigkeit schämte, sie wollte nicht bekannt machen, dass ihre Mutter Russin war, und deswegen redete sie mit mir sehr ungern Russisch, nur wenn wir zu Hause waren und so, kurz. Aber nach einem halben Jahr wurden wir Freunde, meist dank der Jungen, die Jungen besuchten uns und über sie begannen wir irgendwie mehr zu kommunizieren und reisten sogar mit den Autos zu ihr nach Ungarn zu Besuch. Sie half mir bei Bedarf, übersetzte, wenn ich es brauchte. Sie musste mit mir zum Chef gehen, wenn etwas ernstes zu klären war: etwas mit Geld, mit dem Urlaub, den man vereinbaren musste, oder mit verschiedenen Vertagungen. Und das alles musste sie mir immer übersetzen. Ich versuchte mehrmals, sie in Instagram zu finden, als diese sozialen Netzwerke entstanden, erfuhr, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, aber irgendeine Verbindung konnte nicht weiter aufrechterhalten werden. Dafür habe ich immer noch gute Beziehungen mit vielen deutschen Freiwilligen.
Die hier in Russland waren?
Die hier in Russland waren. 1999 kam ich zurück und arbeitete von 2000 bis 2001 als Koordinatorin in Pawlowsk. Und Freiwillige dieses Jahrgangs – sowohl Russen als auch Deutsche – sind bis jetzt meine engen Freunde. Apropos war mein Mann Mark auch mal ein Freiwilliger, er war nach mir in Deutschland. Späterhin wurde er mein Ehemann, jetzt haben wir schon drei Kinder. Wir waren viele Jahre nicht in Deutschland und waren fast nie dort zusammen und reisten nun nach einer langen Pause mit dem Auto zusammen mit unseren Kindern nach Deutschland. Es kam so heraus, dass das 20. Jubiläumsjahr meines Freiwilligeneinsatzes zu Ende kam und sein 20-jähriges Jubiläum erst anfing. Wir besuchten sowohl meinen Arbeitsplatz als auch seinen. Er traf dort manche seiner Schützlinge und es hatte eine große Bedeutung für ihn. Vielleicht deswegen sind die Erinnerungen noch so lebendig, weil wir vor drei Jahren durch diese Orte gefahren sind, das war unser Familienerlebnis.
Was meinst du nun nach so vielen Jahren, wie hat die Erfahrung des Freiwilligenjahres dein Leben verändert?
Erstens ist dies eine eindeutige Grenzerweiterung. Sehr feine Unterschiede werden spürbar, verständlich. Das ist keine Kultur- bzw. Unterhaltungsfahrt, man sieht, wie Menschen
Entscheidungen treffen, wie sie zusammenwirken, welche Werte sie haben, man vergleicht das alles. Übrigens, dadurch dass es in einem jüngeren Alter geschieht, prägen sich diese Dinge stark ein. Jetzt verstehe ich, dass ich nun allein dank dieser Erfahrung anders Entscheidungen treffe und mich freier fühle und überhaupt weiß, was Freiheit ist.
Das ist die bedeutendste Kenntnis, denke ich, über die innere Freiheit.
Ja, die innere Freiheit, die Menschenwürde, sowohl meine eigene Würde als auch die der Menschen in meiner Umgebung. Deutsche sind sehr rücksichtsvoll, bei uns ist es üblich, alle mit dem Vor- und Vatersnamen zu nennen, das „Duzen" gefährdet beinahe persönliche Grenzen. Dort kann man aber „du" sagen und dabei eine respektvolle Distanz zum Gegenüber beibehalten. Du kannst deinen Chef duzen, dabei weißt du, dass er ein Chef ist, und gehst mit ihm mit aller Achtung um. Eine Unterordnung erfolgt nicht weil der Boss so gesagt hätte und alle so täten, sondern weil man den Menschen respektiert und es so tut, weil man es selber will. Bei uns geht man an Probleme etwas anders heran. Mit Verboten. Und dort kann man diskutieren, einen Kompromiss finden, nach einer Lösung suchen, die vielleicht sogar alle befriedigen würde. Zumindest darf man seine Meinung äußern.
Natascha, danke für solch eine, weißt du, prägnante Erzählung, weil es schon - wie viele? Zwanzig Jahre...? - vergangen sind.
Einundzwanzig Jahre!
Und du erinnerst dich so lebhaft an alles, es ist erstaunlich! Manchmal erinnert man sich nicht so gut daran, was im vorigen Jahr geschehen ist, und du hast solche lebhaften, bunten Erinnerungen.
Ja, das ist eine der lebendigen Erfahrungen, so lebenswichtig, dass man sie vielleicht sogar mit der Kindergeburt vergleichen kann.