Interview mit Tatjana Kosizkaja

Tanja, sag bitte, in welchem Jahr du deinen Freiwilligen Dienst und in welchem Projekt gemacht hast?

Mein freiwilliges Jahr habe ich 2016/17 im Wilhelmsdorf gemacht, dort habe ich mit Jugendlichen mit mehrfachen Behinderungen gearbeitet.

Und worin bestand dein Arbeitsalltag?


Ich habe mit Jugendlichen in einer Einrichtung, in der sie wohnten, gearbeitet. Wir haben ihnen zu essen gereicht, sie gewaschen, die Freizeit auf dem Gelände gestaltet, sind mit ihnen Rad gefahren und haben sie morgens zur Schule gebracht. Abhängig davon, in welche Schicht man eingeteilt war, gab es unterschiedliche Aufgaben. Wir haben sie zu Bett gebracht, hin und wieder haben wir eine Gutenachtgeschichte vorgelesen. Auf dem Gelände gab es einen Spielplatz, da sind wir oft hingegangen oder waren spazieren, manchmal haben wir auch Ausflüge mit den Kindern gemacht.

Wie groß war die Gruppe, die du betreut hast?

Bei mir waren 9 Jungen. 9 erwachsene Jungen, ausgenommen von einem Jungen mit Down-Syndrom waren alle Autisten. Gegen Ende meines Dienstes kam noch ein Junge mit Down-Syndrom dazu.

Wie bist du auf das Freiwillige Jahr in Deutschland gestoßen?

Zuerst habe ich eure Anzeige in der Metro gesehen, da wollte ich bei euch arbeiten, in St. Petersburg. Also, als Freiwillige helfen. Später bin ich auf eure Website gegangen und habe anscheinend irgendwo eine Anzeige gesehen, dass Freiwillige gesucht werden. Ich habe mir gedacht, dass ich diese Erfahrung machen wollte, denn ich habe zu der Zeit eine Ausbildung zur Physiotherapeutin gemacht und ich dachte, dass ich dort kein Kontakt mit Menschen mit Behinderung habe und ich wusste gar nicht, wie ich diesen Kontakt hätte herstellen können. Und hier eine solche Möglichkeit, und noch dazu im Ausland – wo ich zuvor noch nie gewesen bin, da habe ich mich entschieden, es zu versuchen und bin gekommen …

War es schwierig, gewählt zu werden?

Der Auswahlprozess war eher aufregend als schwierig. Tatsächlich habe ich mir viel Zeit für die Vorbereitung genommen. Ich hatte so was wie einen Gedankensturm, ich habe sogar einen Psychologen konsultiert, darüber was dort gefragt werden könnte. Weil jemand gesagt hat: "Es gibt diesen Auswahlprozess, sie werden überprüfen, ob du psychologisch stabil bist" ... Es war aufregend. Als es dann losging, waren wir dadurch, dass wir beim Auswahlprozess so eine großartige Organisation und so tolle Moderatoren hatten, ganz gelassen. Und irgendwie war es lustig, heiter, schnell vorbei und sehr entspannt. Klar, das Warten auf die Zusage war sehr nervenaufreibend.

Wie hast du auf die Zusage reagiert? Was hast du in dem Moment empfunden?

Ich war wohl ein wenig geschockt, denn in mir herrschte noch eine gewisse Unsicherheit. Ich dachte, vielleicht, Andere würden eine Zusage bekommen, und ich – ich doch nicht. Und dann habe ich die Zusage bekommen... Zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass ich die Zusage hätte früher erhalten sollen, das habe ich dann später erfahren... Und als es dann klar war, dachte ich mir: Ja? Wirklich? Das war's? Es geht nach Deutschland?! Was? Wie? Ich war sehr aufgeregt. Aber dann schwand die Aufregung, und ich war sehr glücklich.

Blieb die Aufregung bis zur Abreise nach Deutschland oder hast du die Zusage mit Gelassenheit erhalten und dann zu packen angefangen?

Nein, es war doch sehr aufregend gewesen, weil alles so ungewiss war. Und dann gab es die Leute, die fragten: „Wo gehst du hin? Was machst du? Was die da wohl mit dir machen werden! Ist das eine Art von ‚Kult'?" Also klar, natürlich nicht genau so, aber es gab schon Leute, die mich so ‚ermuntert' haben. Aber was toll war, dass ich der Koordinatorin Fragen gestellt habe, die Koordinatorin war immer zur Stelle, hat stets Kontakt zu den Leuten, die dort gewohnt haben, hergestellt - mit denen ich dann direkt reden konnte - das hat mich natürlich prinzipiell beruhigt. Ganz allgemein großen Dank an unsere Koordinatorin. Sie hat immer alles geklärt, hat gesagt: „OK, ich rede mit den Müttern, ich rede mit den Brüdern, ich kümmere mich darum ... ich regele dies, macht euch keine Sorgen." Ihre Gelassenheit hat sich wahrscheinlich auf alle übertragen und so für Ausgeglichenheit unter uns Freiwilligen gesorgt.

Kannst du mir von deinem ersten Tag in Deutschland erzählen? Ihr steigt aus dem Flugzeug ...

Wir kamen mit dem Flugzeug an... Ich war das erste Mal im Ausland, es war also sehr wild und spannend für mich... Ich weiß noch, wir verlassen den Flughafen, und da stehen so eine Million Fahrräder, da dachte ich mir „wow, die Leute lassen zu so viel ihre Fahrräder stehen und machen sich kein Stress!" Darauf sind wir direkt etwas essen gegangen, das war auch toll und hat Spaß gemacht. Ich erinnere mich, dass wir durch die Stadt gelaufen sind. Alles war neu, aufregend, vorfreudig auf das Neue, aber man wusste noch nicht, was es sein wird. Gemischte Gefühle, irgendwo etwas Angst, irgendwo etwas Hochfreude durch die neuen Eindrücke.

Dann war da noch das Seminar...

...ja, und dann war da noch das Seminar. Wir fuhren zu so einem prächtigen Gebäude. Um dorthin zu gelangen, musste man eine Treppe hochsteigen und dann kam ein idyllischer Ausblick auf Felsenberge, so dass man denkt - das ist ja wie im Paradies. Dass man zu sich sagt - danke, dass ich für dieses Projekt ausgewählt worden bin, es ist wirklich traumhaft hier.
Als wir dann noch die Holzhäuser zu Gesicht bekommen haben, in denen wir wohnen sollten, war das für uns unglaublich. Dann haben wir am ersten Tag noch andere Freiwillige kennengelernt, Deutsche, und irgendwie haben wir uns auch schnell zu verständigen gewusst, ohne Unannehmlichkeiten, obwohl ich generell niemanden verstanden habe, da ich kein Deutsch sprechen konnte. Aber ich weiß noch, irgendwie haben wir uns doch mit etwas gebrochenem Englisch verständigt.

Hast du es geschafft in diesem Jahr Deutsch zu lernen? Also hat dein Umfeld dich beim Lernen der Sprache unterstützt?

Das hat natürlich geholfen. Aber tatsächlich habe ich erst nach vier Monaten richtig angefangen. Ich wohnte mit einem Mädchen aus der Ukraine zusammen und das hat mich etwas vom deutsch sprechen abgebracht. Sonst hätte ich bestimmt in einem Jahr die deutsche Sprache besser und fließender beherrschen können. Andererseits hat sie mir auch mal ausgeholfen, weil wir in der gleichen Einrichtung gearbeitet haben, und irgendwie haben meine Kollegen Wege gefunden, mir was auf Englisch zu erklären, obwohl einige kein Englisch sprachen, viele von ihnen waren Einheimische, die kaum Englisch konnten, aber sie haben irgendwie gezeigt, was ich zu tun habe, wie ich es hinlegen muss, wie ich um das Kind herumgehe, wie ich ihm helfen kann.

Was ist die schönste Erinnerung des Jahres? Was fällt dir als erstes ein, wenn du daran denkst?

Mein schönstes Erlebnis, an welches ich immer wieder denken muss, war mein erstes Mal in den Alpen, bzw. der erste Morgen, an dem ich dort aufgewacht bin, und bis heute ist es das Lebendigste, was mir wieder und wieder in den Sinn kommt, wenn ich beispielsweise meditiere oder an „den schönsten Augenblick meines Lebens" denken soll. Ich erinnere mich, wie ich aufwachte - diese Alpen, die Vögel, alle schliefen noch und ich saß da und dachte „das ist das Paradies. Wie kann es nur so schön und großartig sein". Natürlich habe ich auf meinem Arbeitsplatz auch viele Erinnerungen gesammelt.
Stehst du noch im Kontakt zu jemanden aus deinem Projekt?

Ich habe Kontakt zu einem Kollegen, mit dem ich mich dort angefreundet habe. In diesem Jahr arbeitet er jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dort, wir halten aber den Kontakt. Er
schickt mir immer Bilder und erzählt mir von seinen Kindern. Es gibt auch ein Mädchen im nächsten Dorf... Ich weiß nicht mehr, woher genau sie kommt, ich glaube von der Krim - wir schreiben manchmal miteinander. Jetzt wohnt sie in dem Haus, in dem ich früher gewohnt habe, sie erzählt mir von den Nachbarn, und überstellt deren Grüße an mich.

Hast du während deines Freiwilligen Dienstes Freunde gefunden, hast du noch Kontakt, auch außerhalb des Projektes ganz allgemein?

Natürlich habe ich mich mit unseren russischen Freiwilligen angefreundet - einige von ihnen sind gute Freunde, einige von uns haben schon zusammen eine Weile hier in St. Petersburg gelebt und als wir zurückkommen sind, blieben wir in Kontakt miteinander. Mit manchen trifft man sich seltener, aber mit mindestens drei oder vier von ihnen bin ich befreundet. Wir haben immer noch Kontakt zu unseren Kollegen, wir schreiben mit einigen von ihnen und laden sie auch ein, uns zu besuchen. Ich habe sogar vor, wieder dorthin zu fahren, wenn die Grenzen offen sind, denn ich möchte wirklich meinen Arbeitsplatz wiedersehen und dort Zeit verbringen.

Was ist das Wichtigste, das du während deines Freiwilligenjahres gelernt hast?

Geduld. Oft denke ich, dass dieses Jahr mir geschenkt worden ist, um mich zu ‚zügeln' und mich geduldiger zu machen, denn vor allem an Geduld habe ich dazu gewonnen.

In was für Momenten hast du das gelernt?

Ich habe mit Menschen mit Autismus gearbeitet, und da muss alles nach Plan sitzen und man kann das Kind nicht hetzen. Wenn du dich beeilen willst, ist das denen egal. Die Kinder waren unterschiedlich, und einige von ihnen waren so: Es gibt Dinge die für sie funktionierend ablaufen müssen, ich hatte zum Beispiel einen, der einen Raum erst nach 20 Minuten verlassen wollte. Er kam raus und ging dann wieder rein. Und ich stand zwanzig Minuten lang da und wartete. Es war nervig - am Anfang war das schwer, und dann - na ja, OK, bleiben wir, bleiben kurz hier mit dir und warten 20 Minuten. Ich habe auch gelernt, wie man einen Zugang zu jeder Person finden kann. Mit diesen Jugendlichen lernt man es. Oder besser gesagt, man kann es nicht anders lernen, denn es gibt keinen anderen Weg mit ihnen, sie sind alle so unterschiedlich, und sie leben alle in ihrer eigenen Welt, und man muss sich irgendwie in sie hineinversetzen, sie bis zu einem gewissen Grad so akzeptieren, wie sie sind. Es ist nicht einfach, aber es lohnt sich. Und dafür bin ich sehr dankbar, dass ich diese Erfahrung gemacht habe - ich denke, sie ist sehr wertvoll.

Hast du Russland vermisst?

Ich habe Russland eigentlich nur im Winter vermisst. In dieser Zeit, in der man nirgendwo besonders hingeht und das Wetter so düster ist, überkommt einen eine leichte Depression. Eigentlich war das einzige Zeit, in der ich Heimweh hatte. Aber das Jahr war so gefüllt - emotional, und mit allen möglichen Reisen und Bekanntschaften, dass überhaupt keine Zeit für Heimwehgefühle blieb. Ich hatte eine kurze Periode im Winter, genauer so einen Monat - Januar, Anfang Januar. Andere Freiwillige fuhren heim, aber ich fuhr erst im Frühjahr, weil ich etwas Unverschiebbares für mein Studium wahrnehmen musste – da war Prüfungszeit. Und wenn das nicht gewesen wäre, dann wäre ich nicht heimgefahren. Das heißt, ich war in Deutschland rundum zufrieden.

Hast du jemals daran gedacht, zu bleiben?

Ich habe schon darüber nachgedacht. Aber zu der Zeit hatte ich einerseits mein Studium und anderseits hatte ich gegen Ende des Jahres den Gedanken, dass ich nach Russland zurückkomme und dort etwas beitragen kann, es ist meine Heimat, ich muss den Kindern hier helfen. In Deutschland gibt es Menschen, die ihnen helfen, aber ich möchte den Kindern in Russland helfen. Diese Gedanken brachten mich zurück.

Bist du jetzt in irgendeiner Weise in diesem Bereich tätig?

Ja, ich arbeite in einer Förderschule. Ich habe mein Studium abgeschlossen und fing direkt an dort zu arbeiten, außerdem arbeite ich immer noch als Sportlehrerin-Bewegungstherapeutin.

Gefällt dir das?

Ich fühl mich wohl, ja. Es ist nicht immer leicht, ich habe unterschiedliche Gedanken. Eine Zeit lang hatte ich mit dem Gedanken gespielt und mit gewünscht, zurück nach Deutschland zu gehen, um dort etwas auszuprobieren... Aber irgendetwas hält mich trotzdem hier. Ich würde nicht sagen, dass es die Angst ist vor Veränderung ist, aber etwas hält mich hier in Russland.
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